Die Aufzählung der Regelbeispiele in D Nr. 1d bis Nr. 1f VMG enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Liegt eine schwere psychische Störung in Form einer Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren vor, die zu einer ausgeprägten Somatisierung führt und mit schweren belastungsabhängigen Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule erlebt wird, kann eine erhebliche Gehbehinderung im obigen Sinne bejaht werden.
Die Beteiligen streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens G.
Der 1966 geborene Kläger, bei dem 2015 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden war, stellte am 9. November 2015 einen Neufeststellungsantrag, mit dem er auch das Merkzeichen G begehrte. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 2. Februar 2016 ab. Auf den Widerspruch des Klägers stellte er mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2016 einen GdB von 60 fest, blieb jedoch bei der Versagung des Merkzeichens G. Hierbei legte er zuletzt folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Muskel- und Wurzelreizerscheinungen bei Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Spinalkanal), außergewöhnliche Schmerzreaktion (Einzel-GdB von 40),
2. coronare Herzkrankheit, abgelaufener Herzinfarkt, Coronardilatation/Stent (Einzel-GdB von 30),
3. depressive Störung, psychische Störungen (Einzel-GdB von 20),
4. Funktionsbehinderung der Finger rechts (Einzel-GdB von 10),
5. Reizmagen (Einzel-GdB von 10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 1. November 2017 eingeholt, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G verneint hat. Dem Gutachten folgend hat das Sozialgericht mit Urteil vom 6. März 2018 die Klage abgewiesen.
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung hat der Kläger sein Begehren zunächst weiterverfolgt.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens der Fachärztin für Neurologie Dr. H vom 7. März 2019, die nach Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung gelangt ist, dass eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt.
In der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2019 hat der Kläger sein Begehren auf den Zeitraum ab dem 1. März 2019 beschränkt und im Übrigen die Berufung zurückgenommen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. März 2018 aufzuheben und den Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2016 zu verpflichten, bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G mit Wirkung ab dem 1. März 2019 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit er sie fortführt, begründet. Randnummer19 Der Kläger hat ab dem 1. März 2019 Anspruch Zuerkennung des Merkzeichens G.
Gemäß § 228 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 152 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 228 Abs. 1 Satz 1, § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. „doppelte Kausalität“, siehe zu § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.: BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens G in D 1d bis 1f VMG mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen G unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX a.F. (nunmehr § 153 Abs. 2 SGB IX) mit Wirkung ab dem 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 –B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in D Nr. 1d bis Nr. 1f VMG enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger erheblich gehbehindert. Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im noch streitgegenständlichen Zeitraum gehindert ist, eine Strecke von etwa zwei Kilometern in etwa einer halben Stunde zurückzulegen. Er folgt der nachvollziehbaren Beurteilung der Sachverständigen Dr. H, die dargelegt hat, dass die Einschränkung der Gehfähigkeit bei dem Kläger vorliegt. Der Kläger hat keinerlei Zeichen von Aggravation gezeigt; sämtliche testpsychologischen Verfahren sind diesbezüglich unauffällig gewesen. Auch während der Untersuchung durch die Gutachterin hat der Kläger dissimulierend gewirkt. Weiter ist der Kläger behinderungsbedingt daran gehindert, die genannten Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt werden. Die Sachverständige hat festgestellt, dass bei ihm eine schwere psychische Störung in Form einer Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren vorliegt, die zu einer ausgeprägten Somatisierung führt. Diese wird von dem Kläger mit schweren belastungsabhängigen Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule erlebt. Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. W, bei dem Kläger liege keine erhebliche Gehbehinderung vor, besitzt demgegenüber nur eine geringe Überzeugungskraft, da sich der Gutachter hierbei auf das orthopädische Leiden des Klägers beschränkt hat, ohne die Somatisierungsstörung einzubeziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.